Unterwegs in die Stille – Aus einem Gespräch zwischen Lothar Quinte und Peter Iden, Wintzenbach (Elsaß) 1997

Schon länger lebt und arbeitet Lothar Quinte auf dem französischen Ufer des Rheins, im nördlichen Elsass, Grenzland. Manchmal sind wir zusammen an hellen Nachmittagen über die Felder (die im Herbst wie abgeschabte Leinwände sind) durch die Niederungen zu dem großen Fluss gegangen. Über die Kunst haben wir nicht gesprochen. Obwohl es die Kunst war, die uns vor Jahren zusammengebracht hat. Quintes frühe Bilder, eine überraschende Malerei, damals (wie jetzt noch) ganz fremd in ihrer Umgebung, unbeirrbar in Bewegung auf etwas zu, das erst im Akt des Malens bewusst wurde. Dieser Mann hatte immer, was den Künstler macht: das Verlangen nach mehr, den Zug über die Materialität von Farbe und Leinwand hinaus, dahin, wo vielleicht Wahrheit ist. Unruhiges Leben, Glückshöhen und jähe Abstürze – da wäre allerhand zu erzählen (von Gelagen und Trauerszenen) –, aber in der Mitte dieses Menschen und seiner Geschichte: die sichere Gewissheit des Malers, unterwegs im Durcheinander der Epoche, zu seinen stillen Bildern – jetzt mit ihm doch über seine Kunst zu sprechen, darüber, was von der Arbeit der Jahre geblieben ist, bezeugt in vielen Bildern, hier ist also der Versuch.

Peter Iden: Sie sind zuerst in den fünfziger Jahren hervorgetreten aus der Szene der deutschen, der jungen deutschen Malerei damals. Woher kam der Impuls, sich mit den Mitteln der Malerei in der Gesellschaft unserer Welt zu verhalten?

Lothar Quinte: Angefangen hat es so wie bei allen: Kunstschule und dann der Versuch, sich selbst zu finden. Das hat natürlich Zeit gebraucht. Es dauerte Jahre, bis man wirklich machen konnte, was man wollte – und man musste sich vor allem abgrenzen. Abgrenzen gegen die Generation, die vor uns war, Baumeister, Nay, Fritz Winter. Im Abgrenzen hat man sich dann selbst erkannt und eigenen Weg gefunden.

P. I.: Es fällt auf, dass es keine figurativen Phasen gibt, auch nicht im Frühwerk.

L. Q.: Damals, 1945, war die moderne Kunst für uns etwas ganz Neues. Wir hatten keine Ahnung davon, was in der Welt passiert war, außer Fahnen, Krieg und „Kunst dem Volke“ kannten wir nichts – das war die Zeit, in der wir erwachsen wurden. Besonders die gegenstandsfreie, die absolute Malerei war für uns das unerhört Neue.

P. I.: So hieß moderne Malerei von Anfang an abstrakte Malerei.

L. Q.: Damals auf alle Fälle – das war die Freiheit.

P. I.: Nun kann man die Phasen beschreiben, die das Werk durchlaufen. Man sieht zuerst eine starke gestische Malerei mit einem noch fast skripturalen Zug. Es ist beinahe, als sei da Schrift herauszulesen. Es kommt dann zu Übergängen. Die Kunstgeschichte neigt dazu, das alles zu schablonisieren. Natürlich sind die Übergänge fließend. Es kommt allmählich zur Herausbildung einer anderen Ausdrucksform. Man sieht fallende Farbvorhänge mit Übergängen zu den sogenannten „Fensterbildern“, und die Fensterbilder selber prägen auch eine Form vor, die wir stärker ausgeprägt dann im nächsten Werkabschnitt sehen, der eine klare Geometrisierung zeigt: Der Verlauf der Linien ist scharfgeschnitten, fast wie Blitze eilen Farbströme durch das Bild, sehr scharf eingegrenzt, also eine Geometrisierung bei allerdings anhaltender Dynamik ist in allen Phasen ein durchgängiges Element des Werkes.
Also Bewegung von Farbe. Aber dann kommt eine Zäsur, ein Abschnitt, der zusammenhängt mit einer starken persönlichen Erfahrung.

L. Q.: Die ersten Bilder, die mir wichtig sind, sind sehr gestisch, sehr expressiv. Der Übergang zu den stillen Bildern war dann wohl, im Nachhinein gesehen, ein Reifungsprozess. Diese Malerei habe ich als meinen Mittelpunkt erkannt. Von da an versuche ich, Möglichkeiten auszuloten, irgendwo an eine Grenze zu stoßen. Zum Beispiel habe ich - ab 1963 - bei den Fensterbildern zum ersten Mal geometrische Elemente verwendet. Das habe ich soweit getrieben, dass es kein Darüberhinaus mehr gab. Das war der Kreis. Das Totale. Da musste einfach Schluss sein. Ich habe aufgehört, zu malen und mir die Welt angesehen.

P. I.: Wie hat sich dieser Ausflug aus dem Atelier in die Welt, ein sehr extensiver Ausbruch aus der Arbeit – wie hat sich das ausgewirkt?

L. Q.: Ja – ich stand einfach vor der Frage, wie es weitergehen könnte. In der Malerei lebe ich nicht von äußeren optischen Eindrücken – also konnte der neue Anlauf nur aus mir kommen. Und das war das Fazit dieser Reise: Selbstbesinnung. Ich habe dann viele Gouachen gemacht, also Tempera auf Papier, und mich freigespielt. Das mache ich übrigens immer, wenn ich nicht weiter weiß. Daraus entwickelt sich dann eine mehr malerische, farbige Phase. Zurzeit male ich wieder an sehr ruhigen, reduzierten Bildtafeln.

P. I.: Gehen wir davon aus, was man sieht. Es ist ganz auffällig und augenfällig, dass es eine Rückkehr gibt, in gewissem Umfang, zu den Anfängen. Es wird da doch ein Begriff fraglich, mit dem wir alle in den fünfziger Jahren und besonders Anfang der sechziger Jahre, vielleicht auch zu leichtfertig, umgegangen sind: der Begriff des Fortschritts in der Malerei.
Fortschritt war überhaupt das Signal der Gesellschaft, das Stichwort. Es ging darum, sich weiterzuentwickeln. Es ging um Zuwachs, und auf einmal war das auch in der Kunst so. Man hat eine Fortschrittstheorie gehabt. Etwa auch in der Abgrenzung zu den Informellen hat man gesagt: monochrom zu malen ist progressiver als alles andere.

L. Q.: Fortschritt im gesellschaftlichen Sinne – das kann man so nicht auf die Kunst übertragen. Klar, wir fühlten uns als Avantgarde. Aber es ging da weniger um Fortschritt, eher darum Überraschungen des Sehens zu bieten, eine Malerei öffentlich zu machen, die nicht als solche anerkannt, nicht geläufig war. Provozieren! Und genau das wollen die Jungen heute auch. Sie wollen angehen gegen das, was wir machen. Aber auch das hat nichts mit Fortschritt zu tun, sondern eben nur mit Abgrenzung.

P. I.: Man erinnert sich, wie wenig akzeptiert diese Malerei in den fünfziger Jahren war.

L. Q.: Aber die Ablehnung war uns Bestätigung.

P. I.: Nun kann man ja, wie Sie es tun, sagen, die Provokation habe einfach darin bestanden, dass man gemalt hat, um die Sehgewohnheiten zu unterlaufen. Aber heute gibt es in Ihrer Malerei auch noch eine Provokation. Wie haben sich in Ihrer eigenen Einschätzung heute die Bilder, die auf den ersten Blick als Rückgriff erscheinen auf Früheres – wie haben sie sich doch verändert und wie unterscheiden sie sich von dem, was Sie früher gemacht haben?

L. Q.: Für mich unterscheiden sich die Bilder nicht sehr – das bin doch immer ich. Und ich greife auf mich selbst zurück, wenn ich einen neuen Anlauf nehmen will. Aber die Provokation hat sich verlagert. Heute ist alles erlaubt – es gibt keine Tabus mehr. Es ist eher provokativ, sich in einer ganz persönlichen Malerei rückhaltlos offenzulegen, kein Gag, kühl, ohne Seelenschmus.

P. I.: Dadurch gewinnen die Bilder merklich einen anderen Ernst. Eine Art von Ruhe ohne Beruhigung; denn sie sind immer noch sehr angespannt. Es ist eine Spannung in den Bildern, aber sie haben doch eine Ruhe und eine – man könnte fast sagen – Würde.
Sie sprechen vor den Bildern davon, dass sie eine Tendenz verfolgen, sie als Ding an sich darzustellen.

L. Q.: Genau das erachte ich als sehr wichtig: das Bild als komplexes optisches Ereignis, reduziert auf das Wesentliche. Und je mehr es mir gelingt, zu reduzieren, desto eindeutiger wird das Bild. Ich habe immer die Ruhe in der Bewegung, die Implosion der Farbe statt der Explosion gesucht, einen Bildzustand – aliterarisch, akompositionell – eine Aufforderung zu sinnliche Schauen.